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Feminist*innen wissen: andere Geschichten sind nötig! Zur Debatte um Rassismus in Kinderbüchern

Erfinden wir unsere eigenen Herstories
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Erfinden wir unsere eigenen Herstories

Seit über drei Wochen wird in Zeitungen und Internet darüber gestritten, ob man in einem über 50 Jahre alten Kinderbuch das rassistische Wort „Neger“ gegen ein passenderes austauschen darf. Mekonnen Meshgena, ein Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, war über das Wort gestolpert, als er seiner Tochter aus Otfried Preußlers Kleiner Hexe vorlas. Er schrieb den Verlag an. In der Neuauflage wird das Wort ausgetauscht, wie übrigens etliche weitere, die aus anderen Gründen dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr entsprechen. Unnötig zu erwähnen, dass das Verschwinden der anderen Wörter (z.B. „Schuhwichse“) keine Debatte ausgelöst hat…

Es ist wohl nicht zu viel verlangt, dass ein afrodeutscher Vater seinem Kind zum Einschlafen ein Buch vorlesen können muss, ohne gleich einen Vortrag über Diskriminierung mitzuliefern. Das Kind weiß vermutlich schon genug über Diskriminierung, oder wird sie noch früh genug kennenlernen. Ich finde: Jedes Kind hat das Anrecht auf Gutenachtgeschichten, die es nicht politisch oder sonstwie reflektieren muss, schon gar nicht in Bezug auf sich selbst: Irgendwo sollen Kindern doch auch einfach mal sein dürfen, wie sie sind.

Doch leider: Hinter Preußler lauern die antisemitische Lutherbibel, Shakespeares Kaufmann von Venedig und der Othello. Wartet nicht nur Enid Blyton mit George, „wie ein Junge“, und Anne, dem „Hausmütterchen“ auf, sondern auch der gute alte Kant mit Bonmots wie „"Gelehrte" Frauen brauchen ihre Bücher etwa so wie ihre Uhr, bloß um sie zu tragen, damit sie gesehen werde, obschon sie meist stille steht oder doch nicht nach der Sonne richtig gestellt ist.“ Gewiss, wir können in philosophischen Seminaren über diese Seite Kants diskutieren – müssen es auch, weil anzunehmen ist, dass Kants Philosophie den Ausschluss von Frauen und die Ausdifferenzierung der Geschlechtscharaktere (Karin Hausen) sowohl spiegelte als auch verstärkte.

Trotzdem: Wollen wir nicht irgendwo einfach mal vorkommen, unreflektiert und „ganz normal“? An einem Regal des Frankfurter Frauenbuchladens (als es ihn noch gab) klebte ein Etikett: Herstory. Geschichte, gegen den Strich gelesen. Da wurden unbekannte Königinnen entdeckt oder der Einfluss von Königinnen auf Könige; Piratinnen wurden gefeiert, Orientreisende und die kleinen Leute, allen voran Bäuerin und Hebamme (letztere natürlich exorbitant kräuterkundig). Viele dieser Herstories waren schlicht überfällig; aber manch andere, denke ich inzwischen, haben wir doch eher an den Haaren herbeigezogen oder idealisiert. Was ist denn zum Beispiel toll daran, als letzten Ausweg das Piratinnenleben zu wählen – ein Leben, das von viel Gewalt und meist auch sexueller Gewalt geprägt war?

Das Problem ist: Wir werden nie eine Geschichte haben, in der (einige) Frauen annähernd so viel zu sagen hatten wie (einige) Männer. Wir können tausend Mal daran erinnern, dass Kindererziehen auch wichtig und eine Familie ein kleines Unternehmen ist – aber man hat halt doch deutlich mehr Macht, wenn man hunderttausende regiert als nur vier oder fünf. Ja, auch Macht zählt!, und wir werden nie auf eine Geschichte zurückblicken können, die von Frauen ebenso sichtbar gestaltet wurde wie von Männern, nie auf eine Weltgeschichte ohne Kolonisatoren und Kolonisierte, und nie auf eine Geistesgeschichte, in der so viel „weibliches“ Erbe ist wie „männliches“. Selbst wenn wir irgendwann in einer wahrhaft egalitären Gesellschaft leben sollten – unser Kanon wird immer belastet sein. Wir können uns eine gleichberechtigte Geschichte eben nicht erfinden.

Außer: Wir erfinden sie einfach. Wir erfinden Königinnen und Philosophinnen und erzählen von ihren Reichen und Schriften. So etwas Ähnliches wie Borges Fiktionen - also Bände und Bibliotheken voll erfundener Biografien und Rezensionen. An der Uni könnte man Kurse in, sagen wir, alternative Geschichte belegen; Schüler*innen und Student*innen würden diese Quellen genauso sorgfältig studieren wie die bisherigen. Jede*r würde natürlich wissen, dass die darin beschriebenen historischen Ereignisse nicht „echt“ wären. Aber was heißt „echt“? Jede*r braucht Orte, wo er oder sie einfach sein darf, ohne auf ihr Anderssein gestoßen zu werden und über die eigene Diskriminierung zu reflektieren. Diese Orte gibt es noch nicht. Was für eine reizvolle Aufgabe wäre es, sie zu erschaffen.